Night Line im TPZ

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Raimund Liebert

Floridsdorf, den 31.September ] Das fehlende Glied ] [ Liebesbrief ]

Der Liebesbrief

In der Winterdämmerung zog der singende Krähenschwarm nach Osten. Das Schauspiel der schwarzen Schemen fand von Nacht zu Nacht seine Fortsetzung. Der Flug führte die Tiere aus dem Kahlenberger Friedhof in den Augarten herüber, um sie mit der aufgehenden Sonne wieder in den Westen hinüberzuführen.
Ihr Schlafplatz konnte nicht derselbe Ort sein, wo sie den Tag zubringen wollten; warum dies so war, blieb rätselhaft: Die Wiesen und Eichen des Augartens böten ihnen genug Nahrung und Schutz.
Es mag der Instinkt der Zugvögel gewesen sein, stupide Gewohnheit oder – jenseits biologischer Logik – das atmende Wintergemälde, das sie Menschenohren und Menschenaugen schufen.
Unter einem der Dächer war eine junge Frau ungesehen und ungehört dabei, Dinge zu verrücken und danach deren ursprünglich vorgefundene Position akribisch wiederherzustellen.
Milli begann damit, Pauls Hemden von den Stuhllehnen zu klauben. Sie sog seinen Geruch ein, ängstigte sich, er könnte in diesem Moment wieder nach Hause kommen, und legte die weichen Hemden zurück auf ihren Platz.
Dann riss sie Tischladen auf, durchforstete sie mit Fingerspitzen nach neuen Notizen, nach aufgerissenen Zigarettenpackungen, die ihr mehr über Paul erzählen würden.
Sein Tagebuch fand sie diesmal hinter den staubigen Schuhen am Boden des Kleiderschranks. Sie versuchte sich seine exakte Lage einzuprägen, nahm es dann hervor und schlug es am Fußboden hockend auf.
Der Eintrag zum vergangenen Tag war wieder knapp und die darin aufgelisteten Informationen sprachen nicht von Gefühlen. Es war ein ständiges „Will wieder E.G. Craig lesen“ - „Ich habe die Aussicht, in Harper’s Bazaar zu veröffentlichen“ – „Philips Performance war langweilig und altbacken“.
Milli riss alles wahllos an sich, jeden Schnipsel seiner Existenz.
Da, als letzten Satz:
„Den Liebesbrief geschrieben.“
Die Aussicht auf ein solches Geschenk ließ ihre Hände zittern, als sie Pauls Tagebuch an seinen Platz zurückstellte und betete, er würde auch diesmal nicht bemerken, dass sie es gelesen hatte.
Bald wurde es so warm, dass sie gemeinsam im Wintergarten frühstücken konnten, bevor die Kälte wieder zurückkehren würde.
Paul fragte sie sanft, vielleicht doch ein wenig verstimmt: „Wie schaut dein Tag aus?“
Zum tausendsten Mal wünschte sie sich, immer zu wissen, was er dachte. Sie strich mit ihren nackten Zehen über die am Fußboden liegende Hündin und erzählte etwas über zu erwartende Überstunden, bis wieder Stille einkehrte. Milli verbiss sich darin, glücklich zu sein, weil er da war.
Paul betrachtete ihr schönes Gesicht, konnte sich nicht satt sehen daran, dass ihr Schlafrock eine Schulter mehr frei ließ als die andere, und genoss dankbar die Atmosphäre aus provokanter Entspannung und legerer Leidenschaft. Er dachte daran, dass er Milli wohl von ganzem Herzen liebte.
Sie gestattete seine Blicke, indem sie ihm in die Augen sah.
Er hasste den Moment der Unsicherheit, als seine Augen nicht mehr standhielten und er wegsehen musste. Das Abwenden von ihr musste etwas mitteilen, was er nicht sagen wollte.
Die Krähen waren über das Glasdach hinweggezogen und Milli warf einen Blick auf seine Armbanduhr.
Eine Woche war vergangen, seitdem Milli begonnen hatte, auf Pauls Brief zu warten. Es sollte für sie der Beginn einer Arbeitswoche im Antiquariat nach drei im Ausland verbrachten Tagen sein, in denen Paul kaum wirklich gearbeitet und stattdessen mit ihr Alkohol– und Leidenschaftsexzesse im Hotelschlafzimmer veranstaltet hatte.
Die Rückkehr nach Wien war entsetzlich, Milli war übel, ihr ganzer Körper schmerzte und es drängte sie nach einer Antwort.
Gab es eine andere Empfängerin des Briefes als sie?
Es verwirrte sie nur noch mehr, dass ihr Geliebter den Brief als unzureichend empfunden und einfach weggeworfen oder dass er mit der Bezeichnung „Liebesbrief“ etwas geheimnisvolles Anderes gemeint haben könnte. Doch sie kannte von ihm weder schreiberisches Unvermögen noch Ironie.
Fehlten Briefmarken in seiner Schreibtischschublade, ein Kuvert, waren noch Druckspuren auf einem Schreibblock zu finden?
Milli fühlte sich fiebrig, schmutzig, hilflos. Sie hasste sich dafür, wie sie war.
Sie stöberte in Papierkörben, rannte mit seinem aufgeschlagenen Tagebuch in der Wohnung umher und stellte sich vor, die bewegten Schatten, die die Morgensonne von ihr an die Wand warf, wären seine und könnten ihr Antwort geben.
Er war fort, er hatte den Hund von ihrer Schwester abgeholt und saß nun im Café Weimar in der Porzellangasse. Ab und zu nippte er nebenher an der Kaffeetasse und konzipierte am Notebook einen Artikel.
Es ging um eine Pariser Großausstellung mit Übermalungen von Arnulf Rainer, nein, es musste um einer Verlagerung der Lesart von Rainers Kunst gehen. Als Haupttitel könnte er sich „The death of meta-communication“ vorstellen, da er auf ein Abgehen von der Interpretation der Übermalungen als einer Verdeutlichung inhärenter Linien und Dynamiken des ursprünglichen Bildes abzielen wollte und stattdessen die Suche nach der Direktheit des unmittelbar ästhetisch erlebbaren Bildes hinter der Übermalung als einer mythischen Sehnsucht, die Rainers Kunst in Wahrheit ausmachte, vorschlagen wollte.
Sein kleiner Hund gefiel ihm, wie er so auf dem Stuhl neben ihm lag. Paul streichelte sein Fell und stellte fest, dass es ihm nicht gefiel, wie ihm die Haut an den Lefzen herunterhing. Die Tendenz ikonographischer Überlagerung im kunstgeschichtlichen Diskurs musste ausgeklammert werden.
Er sollte endlich anfangen, auf Englisch zu denken.
Besser als die Lefzen seines Hundes gefiel Paul die Innenseite von Millis Vagina. Sie war nicht rot, sondern rosa, appetitlich und zart; sie war die begehrenswerteste, die er kannte.
Das war die Idee, die über eine Ausstellungsreportage hinaus propagiert werden sollte – die Freiheit des Betrachters, bei Arnulf Rainer.
Später, als Paul das Café Weimar längst wieder verlassen hatte, fand Milli den Liebesbrief. Er lag in Pauls Aktenkoffer und war zerknittert.
„Du!“ war das erste Wort, und bevor Milli weiterlas, eilte sie in die Garage und fertigte mit dem Kopierer ein Duplikat an.
Der Brief war mit der Hand geschrieben worden, allerdings musste es sich bereits um eine Reinschrift handeln, da nirgends Streichungen und Verbesserungen zu sehen waren und das, was Paul hier verfasst hatte, von untadelhafter Schönheit und Raffinesse war.
Milli zweifelte, ob sie es in Anspruch nehmen durfte, mit diesem „Du!“ gemeint zu sein. Nichts in dem Brief bezog sich auf gemeinsam Erlebtes, doch er ging über diese Stufe hinaus und erzählte von der Liebe in den weitläufigsten und zugleich intimsten Bildern.
Der Brief zwang die Leserin zu umfassender Liebe: Sie musste den Verfasser und das Blatt Papier dafür lieben, dass Milli nach der Lektüre jener sich an sie richtenden, sanft in ihr verkriechenden Worte sich selbst lieben musste.
Es war mit der Zeit nicht mehr wichtig, ob Paul den Brief wirklich an sie geschrieben hatte, ja Paul selbst verlor an Bedeutung. Solange sie allein war, beschäftigte sich Milli weniger verzweifelt als früher mit ihm. Zwar las sie noch heimlich in Pauls Tagebuch, doch mehr aus Gewohnheit als auf der besessenen Suche nach etwas - in welcher Weise auch immer - Bestürzendem.
Wenn Paul für eine oder zwei Wochen ohne sie ins Ausland fuhr, unternahm Milli das Ritual, Ausschnitte aus dem Brief über das ganze Haus verteilt an leeren Wänden anzubringen. Wann immer sie in sich zusammen zu sinken drohte, suchte sie einen der Sätze auf und wuchs wieder in ein Lächeln hinein.
Jeweils bevor Paul zurückkehrte, entfernte sie alles, wobei sie Acht geben musste, die Papiere nicht an einer Stelle aufzubewahren, an der Paul sein Tagebuch verstecken würde.
Nur selten fragte sich Milli, ob Paul längst wusste, dass sie an den Liebesbrief herangekommen war, ja es durch seine Tagebucheintragung darauf angelegt hatte, dass sie ihn finden würde.
Es war an einem kalten Märzabend und Paul ging mit der Hündin im Augarten spazieren. Ob es klug gewesen war, das Tier hierher zu bringen, wo Tausende Krähen auf die schneeweißen Wiesen verstreut vor dem Schlafengehen mit den Flügeln klapperten, klärte sich bald.
Obwohl sie an einer Laufleine hing, stürzte sich die Hündin hinter eine immergrüne Hecke.
Paul hörte sie bellen, einen Vogel schreien, und zog an der Leine, als wollte er jemanden erwürgen. Ihm blieb nichts übrig, als selbst hinter die Hecke zu treten.
Dort sah er im Schnee eine Krähe, der ein Flügel fehlte, die blutete und in immer weiter gezogenen Kreisen umherlief, aber nicht mehr schrie.
Sie würde bei Tagesanbruch nicht mehr über die Dächer zum Kahlenberger Friedhof fliegen können.
In der schwer erträglichen Kälte, mit seinen müden Beinen fühlte sich Paul seltsam betroffen, er fühlte sich verantwortlich.
Er ließ sich auf eine vereiste Parkbank unter einer Laterne fallen und nahm aus seiner Jackentasche den Liebesbrief, der Trost spenden und glücklich machen sollte.
Er hatte ihn an sich selbst geschrieben.

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